Gliedertaxe und Invaliditätsgrad Du bist verletzt: Wie viel zahlt die Unfallversicherung?
Finanztip-Expertin für Versicherungen
Das Wichtigste in Kürze
So gehst Du vor
Ein Unfall kann das Leben verändern – vor allem dann, wenn die Folge eine dauerhafte körperliche Behinderung oder Einschränkung ist. Die private Unfallversicherung kann helfen: Sie zahlt einen Teil der vereinbarten Versicherungssumme, wenn nach einem Unfall ein dauerhafter körperlicher Schaden bleibt. Wie hoch die Leistungen ausfallen und wie die Versicherung die Leistungen berechnet, erklären wir Dir in diesem Ratgeber.
Wie viel Deine private Unfallversicherung zahlt, hängt im Wesentlichen von zwei verschiedenen Faktoren ab: von der vereinbarten Versicherungssumme und dem Grad der körperlichen oder psychischen Einschränkung, auch Invaliditätsgrad genannt.
Die Versicherungssumme hast Du zu Beginn Deines Vertrags mit der Versicherung vereinbart. Meist beträgt die Versicherungssumme mehrere Zehn- oder Hunderttausend Euro. Diese Summe würde Dir die Versicherung zahlen, wenn Du eine sogenannte Vollinvalidität, also eine Invalidität von 100 Prozent erleiden würdest. Bei einer anteiligen Invalidität bekommst Du also auch nur einen Teil der Versicherungssumme ausgezahlt.
Invalidität bedeutet für die Versicherer, dass Du wegen eines Unfalls eine dauerhafte Beeinträchtigung davongetragen hast. Wegen eines Knochenbruchs, der wieder vollständig verheilt, bist Du zum Beispiel noch lange nicht im Sinne der Versicherungsbedingungen invalide. Kannst Du Deinen Arm nach einem Knochenbruch dauerhaft nur noch eingeschränkt bewegen, liegt dagegen Invalidität vor.
Das heißt: Der sogenannte Invaliditätsgrad bestimmt das Ausmaß Deiner dauerhaften Beeinträchtigung. Je höher die Versicherung Deinen Invaliditätsgrad nach einem Unfall einschätzt, desto höher fällt demnach auch die Summe aus, die die Versicherung an Dich auszahlt.
Woran aber machen die Versicherer das Ausmaß Deiner dauerhaften Beeinträchtigung fest? Dazu nutzen sie die sogenannte Gliedertaxe. Die Gliedertaxe ist eine Tabelle, mit der die Versicherung berechnen kann, wie viel Geld sie Dir bei einem Unfall auszahlen muss. Sie ist Bestandteil Deines Versicherungsvertrags. Und legt für jeden Körperteil fest, wie hoch der Invaliditätsgrad ist, wenn er seine vollständige Funktionsfähigkeit verliert.
So kann die Tabelle zum Beispiel regeln, dass Du bei einer Erblindung auf einem Auge einen Invaliditätsgrad von 60 Prozent hast. Das würde für Dich bedeuten: Du bekommst 60 Prozent der vereinbarten Versicherungssumme ausgezahlt.
Das zeigt aber auch: Der vollständige Funktionsverlust eines Körperteils bedeutet nicht automatisch, dass Du zu 100 Prozent invalide bist und die gesamte Versicherungssumme ausgezahlt bekommst. Wie sich der Invaliditätsgrad mithilfe der Gliedertaxe berechnen lässt, erklären wir Dir im nächsten Kapitel.
Neben der Einmalzahlung, auch Invaliditätsleistung genannt, zahlt die Unfallversicherung möglicherweise weitere Leistungen: zum Beispiel ein Krankentagegeld, wenn Du wegen des Unfalls nicht arbeiten kannst oder ein Krankenhaustagegeld, wenn Du im Krankenhaus behandelt werden musst. Eine Unfallrente zahlen die meisten Anbieter nach unseren Analysen erst ab einem Invaliditätsgrad von 50 Prozent. Wie hoch diese Leistungen ausfallen, hängt davon ab, was Du vertraglich mit der Versicherung vereinbart hast. Schau daher nach einem Unfall in Deine Versicherungsunterlagen und prüfe, wie viel die Versicherung an Dich auszahlen muss.
Wichtig: Damit die private Unfallversicherung überhaupt zahlt, musst Du den Unfall unverzüglich, also am besten innerhalb weniger Tage Deiner Versicherung melden (§ 30 Abs. 1 Versicherungsvertragsgesetz (VVG )). Welche Fristen Du außerdem einhalten musst, um Deine Invalidität nachzuweisen, muss Dir der Versicherer mitteilen (§ 186 VVG). Mehr zu den Fristen und wie Du einen Unfall meldest, erfährst Du im Ratgeber zur Invalidität.
Die Gliedertaxe ist eine Tabelle in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB), in der eine Versicherung festlegt, welchen Grad der Beeinträchtigung Du davonträgst, sollte einer Deiner Körperteile fehlen oder vollständig eingeschränkt sein.
Die Körperteile bekommen in dieser Tabelle Prozentsätze zwischen 0 und 100 zugewiesen. So kann einem Auge beispielsweise ein Wert von 60 Prozent zugeordnet sein, einem kompletten Arm 70 Prozent und einem großen Zeh 5 Prozent.
Wie stark Deine körperliche und geistige Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist, schätzt zunächst ein Arzt oder eine Ärztin mithilfe eines Gutachtens ein. Wichtig zu wissen: Dieses Gutachten musst Du in aller Regel innerhalb von 15 Monaten nach Deinem Unfall bei der Versicherung einreichen. Ob nach einem Unfall ein Gesundheitsschaden zurückbleibt, zeigt sich oft erst Monate nach einem Unfall. Daher räumt Dir die Versicherung in aller Regel eine großzügige Frist dafür ein. Schau aber unbedingt in den Versicherungsbedingungen nach, welche Frist Deine Versicherung mit Dir vereinbart hat.
Die endgültige Entscheidung über Deinen Invaliditätsgrad trifft aber die Versicherung. Sie kann Dein Gutachten akzeptieren und auf dieser Basis Deinen Invaliditätsgrad einstufen. Oder sie beauftragt selbst einen Arzt oder eine Ärztin für eine weitere Untersuchung. Kommt das Gutachten zu dem Ergebnis, dass ein Körperteil seine vollständige Funktion verloren hat, dann bekommst Du genau den Wert aus der Gliedertaxe zugewiesen.
Ist der Körperteil dagegen in seiner Funktion nur eingeschränkt, dann kürzt die Versicherung entsprechend den Invaliditätsgrad. Konkret: Ist nach einem Unfall auf einem Auge nur noch die Hälfte der Sehkraft vorhanden, halbiert die Versicherung den Prozentwert, der in der Gliedertaxe für das Auge angegeben ist – beispielsweise von 60 auf 30 Prozent.
Doch nicht jeder Körperteil ist in der Tabelle für die Gliedertaxe aufgelistet, etwa der Kopf, der Rücken oder innere Organe. Doch auch hier können Verletzungen schwere Folgen haben. In solchen Fällen ermittelt die Versicherung den Invaliditätsgrad daher ohne Gliedertaxe.
Jede Versicherung hat eine eigene Gliedertaxe. Beim Abschluss einer privaten Unfallversicherung solltest Du daher die Gliedertaxen verschiedener Tarife vergleichen. Zwar gibt es Empfehlungen des Gesamtverbands der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) für die Gliedertaxe, gute Tarife leisten aber oft deutlich mehr. Während beispielsweise der vollständige Verlust einer Hand laut GDV-Empfehlung 55 Prozent Invalidität bedeutet, sind es bei guten Tarifen laut unseren Untersuchungen im Durchschnitt 72 Prozent. Das kann bei der Auszahlung einen Unterschied von mehreren Zehntausend Euro ausmachen.
Angenommen Du verlierst bei einem Unfall Dein Gehör auf einem Ohr. Die Versicherung legt dafür in ihrer Gliedertaxe einen Invaliditätsgrad von 30 Prozent fest. Bei einer vereinbarten Versicherungssumme von 100.000 Euro bekommst Du also 30.000 Euro gezahlt. Sieht die Gliedertaxe dagegen einen Invaliditätsgrad von 50 Prozent vor, bekommst Du 50.000 Euro gezahlt.
Aus diesem Grund solltest Du bei der Unfallversicherung auch auf eine großzügige Gliedertaxe achten. Eine gute Hilfe für den Vergleich der Gliedertaxen einzelner Unfallversicherungen bietet eine Übersicht des Analysehauses Morgen und Morgen. Das Unternehmen hat die Gliedertaxe von 275 Unfall-Tarifen untersucht und ausgewertet, welche Invaliditätsgrade die Versicherungen im Mittel für welchen Körperteil annehmen.
In der nachfolgenden Tabelle siehst Du in der linken Spalte die Werte, die der Gesamtverband der Versicherer (GDV) empfiehlt. Daneben sind die Durchschnittswerte der Versicherer gelistet, die Morgen und Morgen ermittelt hat. So empfiehlt der GDV einen Invaliditätsgrad von 30 Prozent, solltest Du auf einem Ohr Dein Gehör vollständig verlieren. Die Versicherungen zahlen laut Morgen und Morgen durchschnittlich 43 Prozent. Demnach bist Du zu 43 Prozent invalide, solltest Du auf einem Ohr nach einem Unfall nichts mehr hören.
Grundsätzlich gilt: Die Gliedertaxe eines leistungsstarken Tarifs sollte mindestens die Werte des GDV erreichen. Im besten Fall übertrifft sie aber die Richtwerte.
Körperteil | Empfehlung des GDV | Durchschnittswerte der Versicherungen |
---|---|---|
Stimme | 0 % | 88 % |
ein Auge | 50 % | 62 % |
Gehör auf einem Ohr | 30 % | 43 % |
Geruchssinn | 10 % | 16 % |
Geschmackssinn | 5 % | 13 % |
kompletter Arm | 70 % | 80 % |
Arm oberhalb Ellenbogen | 65 % | 78 % |
Arm unterhalb Ellenbogen | 60 % | 75 % |
komplette Hand | 55 % | 72 % |
Daumen | 20 % | 33 % |
Zeigefinger | 10 % | 24 % |
anderer Finger | 5 % | 11 % |
Bein über Mitte Oberschenkel | 70 % | 77 % |
Bein bis Mitte Oberschenkel | 60 % | 72 % |
Bein bis unterhalb Knie | 50 % | 66 % |
Bein bis Mitte Unterschenkel | 45 % | 63 % |
kompletter Fuß | 40 % | 55 % |
großer Zeh | 5 % | 11c% |
anderer Zeh | 2 % | 5 % |
Quelle: Musterbedingungen des Gesamtverbands der Versicherer (GDV), Morgen und Morgen Analyse auf Anfrage von Finanztip (Stand: 10. Juli 2024)
Wenn Du wissen möchtest, welche Punkte bei einer privaten Unfallversicherung noch wichtig sind, solltest Du in unseren Ratgeber für die die private Unfallversicherung schauen.
Wichtig zu wissen: Eine private Unfallversicherung ist nicht unbedingt notwendig, denn laut Angaben des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2019 entstehen nur rund 1 Prozent aller schweren Behinderungen durch einen Unfall. Die große Mehrheit ist Folge einer Krankheit – doch genau dann schützt die Unfallversicherung nicht.
Viel wichtiger ist deshalb eine Berufsunfähigkeitsversicherung (BU-Versicherung). Ist diese zu teuer oder bekommst Du keinen BU-Versicherungsschutz, solltest Du Dich zu BU-Alternativen beraten lassen.
Die staatliche Erwerbsminderungsrente reicht nicht aus, eine Berufsunfähigkeitsversicherung ist für fast jeden sinnvoll.
Von uns empfohlene Makler: Hoesch & Partner, Buforum24, Zeroprov, Dr. Schlemann unabhängige Finanzberatung, P&F (früh-gewinnt.de).
Der Invaliditätsgrad bestimmt, wie viel Prozent Du von der vereinbarten Versicherungssumme ausgezahlt bekommst. Die Auszahlungssumme erhöht sich aber nochmal, wenn Du zusätzlich zur Versicherungssumme eine Progression, also eine ansteigende Leistung vereinbart hast. Hohe Progressionsstufen liegen bei 225, 350 oder 500 Prozent. Die eigentliche Auszahlungssumme wird dann nochmal um diesen Prozentsatz angehoben. Bei einer Versicherungssumme von 100.000 Euro würdest Du dann je nach Invaliditätsstufe und gewählter Progression bis zu 225.000, 350.000 oder 500.000 Euro ausgezahlt bekommen.
Allerdings greift die Progression bei vielen Versicherern erst ab einem Invaliditätsgrad von 25 Prozent. Außerdem musst Du bei einer sehr hohen Progressionsstufe bis zu doppelt so hohe Versicherungsbeiträge zahlen. Wir empfehlen daher eine Progression von 225 oder 350 Prozent.
Wie Invaliditätsgrad und Progression die Zahlung der Versicherungssumme beeinflussen, zeigt die folgende Grafik. Ohne vereinbarte Progression beträgt die Invaliditätsleistung höchstens 100 Prozent der Versicherungssumme. Wird eine Progression gewählt, steigt die Leistung nochmal an, je höher der Invaliditätsgrad ausfällt. Das ist deswegen besonders wertvoll, weil Du mit steigender Invalidität in der Regel auch höhere Kosten hast, um etwa Dein Haus umzubauen oder Deinen Betrieb umzuorganisieren.
Quelle: Finanztip, eigene Darstellung (Stand: 23. Juli 2024)
Dazu folgendes Praxisbeispiel: Handwerker Manuel rutscht bei Holzarbeiten am Schuppen mit der Säge ab, sein Daumen muss amputiert werden. Die Gliedertaxe seiner Unfallversicherung nimmt bei einem abgetrennten Daumen einen Invaliditätsgrad von 31 Prozent an. Bei einer vereinbarten Versicherungssumme von 100.000 Euro würde Manuel daher 31.000 Euro als Invaliditätsleistung bekommen. Wenn Manuel eine Progression von 350 Prozent vereinbart hat, bekommt er das 3,5-fache, also 108.500 Euro als Invaliditätsleistung überwiesen.
Ist die Funktion seines Daumens dagegen nur eingeschränkt, wird die Zahlung anteilig berechnet. In Manuels Beispiel würde dadurch auch keine Progression greifen: Durch eine Operation kann Manuels Daumen erhalten werden. Nach der Operation kann er den Daumen aber nur noch eingeschränkt bewegen. Die Versicherung kürzt den Invaliditätsgrad daher auf 15 Prozent. Manuel bekommt eine Versicherungssumme von 15.000 Euro gezahlt.
Sind dagegen mehrere Körperteile durch den Unfall betroffen, werden die einzelnen Invaliditätsgrade addiert. Im Ergebnis kann der Invaliditätsgrad 100 Prozent aber nicht übersteigen. Hat Manuel also nicht nur seinen Daumen, sondern auch seinen Zeigefinger verloren, bekommt er für beide Körperteile jeweils einen Invaliditätsgrad zugeordnet. Seine Versicherung legt für den abgetrennten Zeigefinger einen Invaliditätsgrad von 22 Prozent fest. Zusammen mit dem Daumen kommt er auf einen Invaliditätsgrad von 53 Prozent. Bei einer vereinbaren Versicherungssumme von 100.000 und einer Progression von 350 Prozent, bekommt er also 185.500 Euro von der Versicherung gezahlt.
Bei solchen Summen kann es aber auch schnell zum Streit mit der Versicherung kommen. Möglicherweise erkennt sie das von Dir eingeholte Gutachten nicht an und beauftragt einen anderen Arzt. Der stellt dann möglicherweise einen niedrigeren Invaliditätsgrad fest. In so einem Fall solltest Du Dich von einem Anwalt oder einer Anwältin für Versicherungsrecht beraten lassen. Denn es geht oft um sehr viel Geld.
Eine gute Rechtsschutzversicherung übernimmt die Anwaltskosten. Bedenke aber, dass die Versicherung meist eine Wartezeit von mindestens drei Monaten hat. Wenn Du sie also erst abschließt, wenn der Unfall schon geschehen ist, dann übernimmt die Rechtsschutzversicherung keine Kosten für diesen Fall. Am besten überlegst Du also schon bei Abschluss der privaten Unfallversicherung, ob eine zusätzliche Rechtsschutzversicherung für Dich infrage kommt. Wann das der Fall ist, erfährst Du im Ratgeber zur Rechtsschutzversicherung.